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Der Postillon

Eine Geschichte, die sich vor vielen Jahren zugetragen hat...

alter Dialysefilter
Ich bin 15 Jahre alt. Ich liege hier in diesem sterilen Krankenhauszimmer, an einer Maschine, die mein Blut reinigen soll. Ich habe gewusst, dass es so weit kommen würde, nur das Wie habe ich mir anders vorgestellt. Ok, ich habe mir eigentlich gar nicht vorgestellt, wie es sein würde, aber ich hatte eine Ahnung. Dass mein Kopf Matsch sein würde von den Giftstoffen, die sich in meinem Körper ansammelten, davon hatte mir niemand was gesagt. Wer rechnet schon damit, dass eine Krankheit Dir das Lesen, Erzählen und Fabulieren nehmen kann?

Bücher sind, seit ich denken kann, mein einziges Hobby. Für alles andere bin ich zu schwach und zu krank. Das ist mir egal. Ich erlebe alle Abenteuer, die andere in der Wirklichkeit erleben, in meinen Büchern und Träumen. Ich habe eine allerbeste Freundin, die sich meinem Schneckentempo anpasst und ich habe Pete, der so etwas wie mein Zwilling ist. Wir gehen in dieselbe Klasse und verstehen uns blind. Im Deutschunterricht duellieren wir uns gerne, ansonsten sind wir meist einer Meinung.

Ich bin - wie gesagt - 15 Jahre alt und habe naturgemäß anderes vor, als aus meinem momentan recht verpfuschten Leben zu erzählen. Da ich aber jeden zweiten verdammten Tag sechs Stunden an der Maschine hänge, versuche ich, meine Gedanken so weit zu ordnen, dass ich Euch davon erzählen kann, wie ausgerechnet der Postillon in mein Leben trat und Nikolaus Lenau mich für immer prägte.

Es begann an einem Freitag, genauer gesagt, am Freitag vor Pfingsten. Eine Doppelstunde Deutsch stand auf dem Stundenplan und ich freute mich auf den Unterricht, dass zuerst Mathe anstand, blendete ich so lange wie möglich aus. Mein Schulweg wurde täglich beschwerlicher. Unsere Schule klebte am Berg und verteilte sich auf viele Stockwerke. Die Kleinen saßen ganz unten und die Großen ganz oben, was für mich doppelt fatal war. Erstens zählte mich mit meinen 129cm keiner zu den Großen und zweitens fehlte mir je länger je mehr die Kraft, die nunmehr 99 Stufen bis zum Klassenzimmer hochzusteigen.

An diesem Freitagmorgen passte sich meine Freundin wie immer meinem Zeitlupentempo an. Sie war absolut resistent gegen gutes Zureden, obwohl ich ihr jeden Tag im Zug verklickerte, dass sie nicht auf mich warten solle. Bis wir da wären, würde die halbe Mathe-Stunde vorbei sein. Der Lehrer würde uns einen seiner vernichtendsten Blicke zuwerfen. Die Jungs würden uns cool finden – wir hatten mittlerweile so etwas wie Heldenstatus erlangt, weil wir so konstant und ignorant zu spät zum Unterricht erschienen. Das allerdings war nicht nur meine Schuld. Es war auch die Schuld der Berner Oberland Bahnen, die einfach keinen früheren Zug anbieten wollten.

Immer schon lernte ich sehr selektiv. Seit neustem war ich Meisterin in der Abwägung von Energie und zu erwartendem Nutzen. Ich konzentrierte mich auf „Wichtiges“. In der übrigen Zeit lebte ich in einer Art Energiesparmodus. Ich wog täglich Aufwand und Ertrag für mich ab und führte in meinem Kopf eine „To-Do-“ sowie eine „To-Let-List“. Die Lehrer waren mit meiner Auswahl nicht wirklich einverstanden, meine Halbjahresnoten ließen Schlimmes befürchten. Französische Vokabeln fühlten sich wohler im Buch als in meinem Kopf und Pythagoras mit seinen Dreiecken strich ich komplett aus meinem Leben. Meine Eltern bekamen davon nicht allzu viel mit – obwohl sie natürlich wussten, was los war. Nach der Schule verzog ich mich immer mit den Worten: „muss lernen“ in mein Zimmer, warf meine Tasche in eine Ecke und verzog mich mit irgendeinem Lehrbuch ins Bett. Wenn jemand hereinkam, sah es so aus, als würde ich pauken. Ich wurde in allen Belangen des täglichen Lebens zu einer Meisterin des Schauspiels.

Das alles ging ziemlich lange gut. Bis eben zu jenem verhängnisvollen Freitag, bis zu dieser einen Deutsch-Doppelstunde. Alles ging gut, bis Nikolaus Lenau mit seinem Gedicht „der Postillion“ in mein Leben trat. Unser Deutschlehrer strahlte an diesem Freitagmorgen, als er uns auftrug die „Deutsche Gedichtesammlung“ aus den Pulten zu holen. Er nannte uns die Seitenzahl, sprach ein paar einleitende Worte und lehnte sich zufrieden lächelnd an die Wand. Pete warf mir einen herausfordernden Blick zu. Der Wettkampf konnte beginnen. Nur Pete und ich machten uns etwas aus Lyrik. Sofort begannen wir zu analysieren und fabulieren. In dem Raum mit den 20 Schülern gab es nur noch den Lehrer, Pete und mich. Der Rest der Klasse klickte sich aus, spielte „Schiffe versenken“ oder schlief ganz einfach eine Runde.

Am Ende der Stunde wurde uns aufgetragen, bis Dienstag die ersten acht Strophen des Gedichts zu lernen. Frohlockend und siegessicher trollte ich mich nach dem Unterricht von dannen. Ich hatte ein fotografisches Gedächtnis und genügend Selbstvertrauen, um in nützlicher Frist das Gedicht zu lernen und zu überlegen, wie ich es am Dienstag vortragen würde. Mein Plan war, an jedem der drei freien Tage das Gedicht einmal zu lesen. Das reichte erfahrungsgemäß, um sich eine gute Note abzuholen.

Der Samstag kam, die ersten Sonnenstrahlen schauten hinter dem Eiger hervor und schienen in mein Zimmer. Es versprach ein wunderbarer Bergfrühlingstag zu werden und ich beeilte mich, den ersten Durchgang meines Lernpensums anzugehen, damit ich den Rest des Tages mit dem neusten Buch von Berte Bratt im Liegestuhl verbringen konnte. Ich machte es mir mit all meinen Zierkissen gemütlich. Aus dem Kassettenrekorder erklang die schmachtende Stimme von Albert West. Das Leben war schön.

Der Postillion von Nikolaus Lenau
Lieblich war die Maiennacht,
Silberwölklein flogen
Ob der holden Frühlingspracht
Freudig hingezogen.

Lieblich war die Maiennacht, Silberwölklein flogen – lieblich war die Maiennacht, Silberwölklein flogen – lieblich war – was um alles in der Welt war lieblich? Prächtig – die Silberwolken, oder was? Die Worte kamen von weit her und verflossen unerkannt in meinem Kopf. Nichts ergab einen Sinn. Bald dämmerte ich in einem angenehmen Zustand in meinen Kissen. Der Himmel voller Silberwölklein, bis meine kleine Schwester ins Zimmer stürmte. Ich erwachte und alles schien wieder normal zu sein. Ich hatte massenhaft Zeit, alles war gut. Bis Dienstag würde ich das locker hinkriegen.

In der Nacht wälzte ich mich unruhig hin und her. Silberwolken und Postkutschen, Gepäckstücke und Reisende, prächtige Blumen und Nikolaus Lenau flogen durch meine Träume. Als ich am Morgen gerädert aufwachte, hatte ich Fieber. Das ganze Wochenende versuchte ich, mich auf den Text zu konzentrieren. Mein Körper war vergiftet, mein Hirn wohl auch. Nichts aber wirklich gar nichts konnte ich mir merken. Je näher der Dienstag kam, desto größer wurde meine Panik. Zum ersten Mal würde ich in meinem Hauptfach versagen. Alles, an dem ich je gehangen hatte, löste sich an diesem einen Wochenende in Nichts auf. Das schlimmste Jahr meines bis dahin schon nicht einfachen Lebens nahm seinen Anfang in diesen vier Zeilen. Ein Jahr, in dem Pete, der ewige Sieger sein würde. Ein Jahr, in dem beim Sportunterricht keiner übrigblieb, der nicht gewählt wurde. Ein Jahr, in dem ich nur das eine Ziel verfolgte: hier irgendwie wieder rauszukommen und zu überleben.

Am Dienstag wurde ich ins Spital eingeliefert. Der Tag, von dem alle schon lange geredet hatten, war gekommen. Meine Nieren versagten den Dienst, meine Laborwerte waren unterirdisch. Nichts ging mehr. Die Ärzte erklärten mir, wieso ich nicht mehr lernen konnte. Ich war so verzweifelt und sah nur dieses eine Gedicht, das mich zum Scheitern gebracht hatte. Wenn ich gescheitert wäre beim Lernen von französischen Vokabeln oder irgendwelchen historischen Jahreszahlen, wäre das ebenso schlimm gewesen, aber irgendwie verkraftbarer.

Wir schreiben das Jahr 1976. Mao Tse-tung stirbt, Helmut Schmidt bleibt Bundeskanzler und Jimmy Carter wird Präsident der Vereinigten Staaten. Peter Alexander besingt „die kleine Kneipe“ und die Abbas „Fernando.“ Die Welt dreht sich - meine steht still. Jeden zweiten Tag bin ich in der Klinik, sonst bin ich zuhause und warte. Ich warte auf den Tag, an dem ein Mensch sterben wird. Er wird nicht für mich oder schlimmer noch, wegen mir sterben. Seine Familie wird ja sagen; ja, zu einem unglaublichen Geschenk; ja, zur Organspende. Ich warte auf diesen einen Anruf, der mir meinen Verstand und mein Ich zurückbringen, der mich aus diesem luftleeren Raum herausholen und der mir mein Leben zurückgeben wird.

Ich weiß nicht, ob ich irgendwann wieder die Stufen zum Klassenzimmer hochgehen, ob ich mich mit Pete literarisch duellieren werde, ob ich irgendwann mit Nikolaus Lenau und seinem Postillion meinen Frieden schließen kann. Ich weiß aber, dass ich das ziemlich gerne tun würde, wenn’s sein muss auch, wenn ich an jedem einzelnen verbleibenden Schultag eine Doppelstunde Deutsch gegen Mathe eintauschen müsste.
Andrea Schäfer

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